Ungleichverteilung und Wirtschaftskrisen

Analogie zwischen 1929 und heute 

Von Prof. Dr. Christian Kreiß, Hochschule Aalen

Erschienen in horizonte, herausgegeben von der Koordinierungsstelle Forschung und Entwicklung der Fachhochschulen des Landes Baden- Württemberg, Mannheim, Nr. 33, Januar 2009, S.16-21

Fazit: Weltweit hat sich die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen in den letzten zehn bis 25 Jahren deutlich vergrößert. Nur einmal in der jüngeren Geschichte war die Ungleichverteilung in den USA ähnlich stark wie heute: 1929. Bei dem sich derzeit abzeichnenden weltweiten Wirtschaftsabschwung dürfte es sich um weit mehr als eine „normale“ Rezession oder Bereinigungskrise handeln. Die kommende Wirtschaftskrise dürfte weit härter, tiefer und länger sein als alle bisherigen Wirtschaftsabschwünge der Nachkriegszeit.

Wenn die Einkommen der großen Masse der Bevölkerung relativ sinken, muss auch die Massenkaufkraft relativ sinken. Dies würde erklären, warum von dem vergleichsweise kräftigen Wirtschaftsaufschwung in Deutschland in den letzten drei Jahren mit massivem Abbau der Arbeitslosigkeit so wenig im Empfinden der breiten Bevölkerung ankam und weshalb bei uns der Konsum nicht anspringen will: Der größte Teil des Sozialproduktzuwachses ist in die tiefen Taschen eines recht kleinen Teils, des reichsten Teils der Bevölkerung geflossen. Ein ähnlicher Trend zeigt sich in den USA in den letzten Jahren.

Massenproduktion setzt Masseneinkommen und Massenkaufkraft voraus. Wenn die Masseneinkommen mit der Produktion nicht Schritt halten, entsteht eine Unterkonsumtionskrise wie 1929. Den USA gelang es von 1929 bis Kriegseintritt 1941 nicht, ihre Massenarbeitslosigkeit abzubauen, trotz flexibler Arbeitsmärkte, freiem Unternehmertum und New Deal mit expansiver Fiskal- und Geldpolitik. (Vgl. Kindleberger, S.273ff.)

 

I. Theoretische Überlegungen 

Was bedeutet starke Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen – jenseits der Moralfrage – rein ökonomisch für fortgeschrittene Volkswirtschaften? Die oberen 5 bis 10% der Bevölkerung eines Landes bekommen einen immer größer werdenden Teil des in den letzten Jahren in den Industrieländern weltweit stark gewachsenen Volkseinkommens. Wohlhabende Familien konsumieren prozentual weniger von ihrem verfügbaren Einkommen als arme, sie sparen mehr, also fehlt allmählich immer mehr Nachfrage. Wie sollen z.B. Herr Bill Gates oder die Familie Porsche Brüder im Laufe ihres Lebens mehr als ein paar wenige Prozent ihres Einkommens konsumtiv ausgeben? Die wachsende Menge an produzierten Gütern und Dienstleistungen kann auf Dauer immer schwieriger abgesetzt werden. Es entsteht langsam ein Trend zu Unterkonsumtion bzw. Überproduktion. Was passiert dann? Wie kann die allmählich sich bildende Nachfragelücke geschlossen werden? Wer nimmt letztlich die Güter und Dienste ab?

1. Das Problem wird exportiert: Die überzähligen Güter werden gegen Kredit ins Ausland verkauft. In einigen Ländern fand dies in den letzten Jahren statt, z.B. Japan, China, Deutschland, sowie einige Öl- oder Rohstoffexportländer. Im Gegenzug muss es bei anderen Ländern hohe Leistungsbilanzdefizite geben, z.B. in USA, Spanien, Griechenland, Portugal.

Langfristig führen die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte jedoch zu immer höherem Schuldendienst bei den Ländern mit Leistungsbilanzdefizit und so stößt die Außenverschuldung und damit die Güterabsorption an ihre Grenzen.

2. Der Staat muss eingreifen über steuerpolitische Umverteilung der immer ungleicher werdenden Markteinkommen. Reiche Menschen werden in kleinen Schritten stärker besteuert, die weniger reichen werden allmählich entlastet, Stichwort Reichensteuer und Begrenzung von Vorstandsgehältern, um den überproportional steigenden Markteinkommen der Besserverdiener entgegenzuwirken. Diese Umverteilungspolitik wirkt in Deutschland relativ stark: die Einkommensverteilung nach Steuertransfers (Sekundärverteilung oder Nettoeinkommen) ist stärker gleichverteilt als vor staatlichen Transferzahlungen (Primärverteilung oder Markteinkommen). (Vgl. Hubert, S.337) Umverteilungspolitik könnte auf Dauer funktionieren, wenn die Besserverdiener einverstanden sind und prozentual immer mehr Geld an den Staat abgeben als Ausgleich für ihre stärker wachsenden Markteinkommen und nicht die Steuerflucht ergreifen. Die zunehmende Besteuerung von Kapitaleinkommen stößt von Anfang an auf mehr Widerstand, weil das scheue Kapital über die Grenzen geschafft werden kann.

3. Der Staat lässt die Umverteilungsquote wie sie ist, macht aber ausgabefreudige Fiskalpolitik, um die zu viel produzierten Güter aufzunehmen, wie etwa Japan in den 1990er Jahren. Das löst kurzfristig das Problem über mehr Schulen, Straßen, Krankenhäuser usw., führt aber langfristig entweder über Finanzierungsdefizite zu einem immer weiter steigenden Schuldenberg, was auf Dauer nicht durchhaltbar ist; oder es führt bei ausgeglichenen Staatshaushalten zu einer immer weiter steigenden Staats- und Steuerquote, was langfristig ebenfalls nicht durchhaltbar ist.

4. Die zunehmenden Ersparnisse der wohlhabensten Einwohner werden über das Finanzsystem verliehen an die weniger wohlhabenden. Diese können dann, etwa über Konsumkredite mehr konsumieren und die Produktionslücke wird geschlossen, Unterkonsumtion findet nicht statt. Dies fand in großem Umfang während der letzten 10 Jahre in vielen Industrienationen statt, v.a. in USA, Großbritannien, Spanien, aber auch in anderen westlichen Ländern. Auf Dauer wird jedoch die Schuldenlast im Verhältnis zu den Einkommen so groß, dass die Verschuldung an Grenzen stößt und der Konsum nicht weiter steigen kann.

5. Es wird von der Wirtschaft weniger investiert und produziert: Dann gibt es keine Überproduktion, allerdings werden weniger Arbeitskräfte benötigt und es entsteht Arbeitslosigkeit. Diese führt wiederum zu weniger Einkommen und weniger Nachfrage, der Abwärtsprozess wird verschärft und löst möglicherweise eine Depression aus.

Im wesentlichen versuchte man in den letzten 10 Jahren in den Industriestaaten das Problem über Punkt 1 (vermehrte außenwirtschaftliche Ungleichgewichte) und Punkt 4 (im Inland vermehrte Kredite der Wohlhabenden an die weniger wohlhabenden) zu lösen. Beide Lösungsansätze sind langfristig nicht tragbar.

Wenn die zunehmende Ungleichverteilung von Markteinkommen und Vermögen nicht an der Wurzel beseitigt wird, müsste mittelfristig ein Wirtschaftswachstumsproblem wie oben unter Punkt 5 skizziert auftreten: Wirtschaftsabschwung und Krise.

 

II. Aktuelle Trends zur Ungleichverteilung bei Vermögen und Einkommen in Deutschland und USA:

Deutschland:

1. Laut einer Studie von McKinsey sank von 2000 bis 2006 die Mittelschicht, also diejenigen Personen, die 70 bis 150% vom Durchschnittseinkommen verdienen, von 62 auf 54% der Bevölkerung. Der Anteil der Armen, die weniger als 50% des Durchschnittseinkommens verdienen, erhöhte sich zwischen 1996 und 2006 von 7,3% auf 11,4% der Bevölkerung, der Anteil der Reichen (über 200% des Durchschnittseinkommens) stieg im gleichen Zeitraum von 6,4 auf 9,2% der Bevölkerung. (Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 5.5.2008)

2. Eine Studie des DIW Berlin vom 7.11.2007 kommt für Deutschland zu dem Fazit: „Rund zwei Drittel der Bevölkerung verfügten im Jahr 2002 über kein oder nur ein sehr geringes individuelles Netto- Vermögen (Geld- und Realvermögen). Im Gegensatz dazu besitzen die reichsten 10 Prozent knapp 60% des gesamten Vermögens.“ Die obersten 1 Prozent der Bevölkerung verfügten 2002 demnach über mehr als 20% des gesamten deutschen Vermögens. Die unteren 70 Prozent der Bevölkerung haben im Gegensatz dazu einen Anteil am Gesamtvermögen von unter 10 Prozent. (DIW November 2007)

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